
Fernandos viele Pessoas
Fernando Pessoa und die Erfindung des Selbst – Über Heteronyme, Identität und das lyrische Experiment
Manchmal frage ich mich, ob Fernando Pessoa überhaupt wusste, wer er war.
Vielleicht ist das ja der Punkt: dass er es nicht wissen wollte.
Pessoa war kein Dichter im herkömmlichen Sinn. Er war ein ganzes literarisches Universum – bevölkert von Figuren, die er selbst erfand, und die ihm irgendwann fast die Bühne wegnahmen. Über achtzig Heteronyme hat er geschaffen, jede mit eigener Biografie, eigenem Stil, eigenem Blick auf die Welt.
Alberto Caeiro, der Naturdichter, der alles einfach „so nimmt, wie es ist“.
Ricardo Reis, der stoische Arzt, der in lateinischer Ruhe über Ordnung und Maß schreibt.
Und Álvaro de Campos – der wilde Futurist, der sich nach Geschwindigkeit und Sinnlosigkeit sehnt und in einem Satz so viel Gefühl unterbringt, dass einem schwindlig wird.
Pessoa selbst?
Kaum sichtbar.
Er verschwindet zwischen ihnen, als hätte er das Ich absichtlich in Einzelteile zerlegt, um zu sehen, was davon übrig bleibt.
„Ich bin nichts. Ich werde niemals etwas sein. Ich kann nicht einmal wollen, etwas zu sein.“
So beginnt sein berühmtes Gedicht Tabacaria. Und das ist typisch Pessoa: traurig, klar, fast frech in seiner Verzweiflung.
Er schreibt, als würde er sich selbst beim Denken zusehen.
Pessoa hat das getan, wovon Sylvia Plath träumte: Er hat sich vervielfacht.
Plath fühlte sich, hat sie einmal gesagt, in ihrer eigenen Haut gefangen. Sie wollte „tausend Leben leben“, aber sie war dazu verdammt, nur eines zu haben. Pessoa dagegen brauchte kein neues Leben – er erfand sich einfach neue Stimmen. Seine Heteronyme waren seine Fluchtwege, aber auch seine Heimat. Jede Figur war eine Möglichkeit, etwas zu fühlen, was er sonst vielleicht nie gefühlt hätte.
Und ehrlich gesagt – wer von uns hat nicht schon einmal gewünscht, jemand anderes zu sein, nur für einen Moment?
In einer Zeit, in der Joyce die Gedankenströme seiner Figuren kartographierte und Eliot versuchte, Ordnung in die Fragmente der Moderne zu bringen, schuf Pessoa ein eigenes Experiment:
Er ließ die Fragmente miteinander reden.
Wo andere das Bewusstsein sezieren, ließ er es sich multiplizieren. Seine Heteronyme führen Dialoge, streiten miteinander, widersprechen sich. Manchmal schreiben sie sogar über Pessoa – als wären sie echte Kollegen.
Damit steht er mitten in der portugiesischen Moderne, und zugleich weit darüber hinaus. Autoren wie José Saramago oder Clarice Lispector, später in Brasilien, führen sein Denken fort – dieses tastende, zersplitterte, poetisch-philosophische Selbstgespräch.
Pessoa hat etwas in Bewegung gesetzt, das bis heute wirkt: eine Sprache, die sich selbst beim Entstehen beobachtet.
Und während Portugal damals politisch zwischen Monarchie und Republik schwankte, schrieb Pessoa über innere Republiken. Über all die Stimmen in uns, die nie gewählt wurden, aber mitsprechen wollen.
Vielleicht ist das, was ihn so besonders macht, gar nicht die Zahl seiner Heteronyme, sondern der Mut, sie ernst zu nehmen.
Er zeigt, dass Identität nicht etwas ist, das man hat, sondern etwas, das man immer wieder schreibt. Dass das lyrische Ich nicht bekennt, sondern erfindet.
Am Ende bleibt Pessoa ein Rätsel. Einer, der sich so lange beobachtet hat, bis er verschwand.
Aber vielleicht ist das gar kein Verlust. Vielleicht ist das genau der Moment, in dem das Schreiben anfängt.