
HOLDEN THINKS YOUR A PHONY
Holden Caulfield und das Mitgefühl
Wenn man Holden Caulfield zuhört, hat man das Gefühl, neben ihm zu sitzen – irgendwo zwischen Schulrauswurf, Bahnhofscafé und Hotelzimmer, in einer Nacht, die nicht enden will. Er redet, ohne zu reden, klagt, ohne zu klagen. Sein Ton ist vertraulich, ironisch, unruhig – ein Ton, der Nähe schafft und sie zugleich wieder zerstört. Als Leser fühlt man sich ihm nah, fast zu nah, und doch weiß man nie, woran man mit ihm ist.
Holden erzählt, als würde er uns ein Geheimnis anvertrauen, aber jedes Mal, wenn man glaubt, ihn zu verstehen, zieht er sich zurück, macht einen Witz, lenkt ab. Dieser Plauderton ist das eigentliche Kunstwerk des Romans: Er täuscht Vertrautheit vor, ohne sie je vollständig einzulösen. Wir sind nicht nur seine Zuhörer, wir werden zu Komplizen seiner Unsicherheit. Manchmal glauben wir ihm, manchmal nicht, und vielleicht will Salinger genau das: uns spüren lassen, wie brüchig jedes Erzählen ist, wenn es von Schmerz handelt.
Denn Holden ist kein verlässlicher Erzähler. Nicht, weil er lügt, sondern weil er fühlt. Seine Widersprüche und Übertreibungen sind keine Manipulation, sondern eine Art, sich zu schützen. Er teilt die Welt in ehrlich und falsch, echt und verlogen, Kindheit und Erwachsensein – aber in Wirklichkeit fürchtet er nur, dass alles, was echt ist, verloren gehen könnte. Dass Erwachsenwerden nichts anderes bedeutet, als diese Echtheit aufzugeben.
Dass Holden keine wirkliche Entwicklung durchmacht, ist kein erzählerischer Fehler, sondern eine bittere Konsequenz. Er bleibt stehen, weil sich in seiner Welt nichts mehr bewegen lässt. Sein Widerstand gegen das Erwachsenwerden ist ein Aufschub, eine Weigerung, sich den Enttäuschungen der Realität zu fügen. Und doch ist in seiner Rastlosigkeit etwas Tief-Menschliches: das Bedürfnis, den Moment festzuhalten, in dem alles noch Sinn ergibt.
„Don’t ever tell anybody anything. If you do, you start missing everybody,“ sagt Holden am Ende – und in diesem Satz liegt das ganze Paradox seines Erzählens. Nähe macht verletzlich. Wer erzählt, verliert. Wer fühlt, trauert. Aber gerade in dieser Müdigkeit liegt eine Art von Wahrhaftigkeit, die man in ihrer rohen, ungeschliffenen Form kaum noch findet.
Vielleicht ist das, was diesen Roman so anhaltend macht, genau diese Mischung aus Zynismus und Zärtlichkeit. The Catcher in the Rye ist ein Buch über Einsamkeit, aber es erzählt sie mit einem Humor, der nie zynisch wird, und einer Traurigkeit, die nie sentimental ist. Holden will die Kinder auffangen, bevor sie über die Klippe des Erwachsenwerdens stürzen – aber vielleicht will er nur, dass jemand ihn auffängt.
Der Roman bleibt aktuell, weil er uns zwingt, die leisen Brüche in uns selbst zu hören. Weil er zeigt, wie schwer Aufrichtigkeit geworden ist, und wie leicht man in einem System aus Masken, Posen und ständigen Selbstinszenierungen verloren gehen kann. Holdens Abschweifen, sein halb ironischer, halb erschöpfter Ton – das alles wirkt heute fast prophetisch, in einer Zeit, in der Reden oft nichts mehr bedeutet, und Zuhören noch seltener geworden ist.
Vielleicht lehrt uns Holdens Geschichte vor allem eines: dass Mitgefühl nicht an Vernunft gebunden ist. Dass man Menschen verstehen kann, ohne sie rechtfertigen zu müssen. Und dass es manchmal reicht, zuzuhören – auch wenn man nicht weiß, was man darauf sagen soll.
Denn vielleicht besteht Erwachsenwerden, das, was Holden so sehr fürchtet, genau darin: die Welt zu sehen, wie sie ist – und sie trotzdem zu lieben.