
BRIEF
Lieber Vincent,
heute ist einer dieser Tage, an denen alles gedämpft erscheint. Das Licht ist blass, der Himmel grau und schwer. Ich sitze an meinem Schreibtisch und denke an dich, fast beiläufig, wie an einen alten Bekannten von dem man lange nichts gehört hat.
Es kommt mir merkwürdig vor, dass du nie wusstest, wie viele Menschen dich im laufe der Zeit gesehen haben – wirklich gesehen. Nicht als Name neben einem Bild auf Museumswänden, sondern als Mensch, der fühlte, zweifelte, suchte. Deine Sonnenblumen, dieses unbeirrbare Gelb, deine Zypressen, die sich wie dunkle Gedanken in den Himmel ziehen, das flirrende Licht der Provence, dein Zimmer in Arles mit seinen schmalen Betten und einfachen Stühlen – all das ist heute Teil deines Mythos, der weiterlebt, ohne dass du jeh davon erfahren wirst.
Ich frage mich oft, ob es dir recht wäre, dass wir deine Briefe lesen. Ob dich der Gedanke trösten würde, dass deine Worte, so tastend und aufrichtig, noch immer gehört werden. Oder ob es dir fremd erschiene, vielleicht sogar beunruhigend. Ich lese sie langsam, als läse ich etwas, das eigentlich nicht mir gehört – und doch empfinde ich eine Nähe, die sich nicht erklären lässt.
Du schriebst von Müdigkeit, von Glauben, von dem Wunsch, Sinn zu finden. Und ich wünschte, ich könnte dich fragen, ob es einen Ort gab, an dem deine Gedanken stiller wurden. Einen Ort, der dich nicht drängte. Ob du in den Olivenhainen von Saint-Rémy ruhiger warst, unter jenem Himmel, der so weit schien, dass er jede Grenze aufhob. Ob es einen Raum gab, in dem du atmen konntest, wo du sein durftest ohne dich rechtfertigen zu müssen.
Ich verstehe dieses Gefühl, die Welt gleichzeitig als schön und als zerbrochen zu sehen. Dieses Dualität, die einen nicht loslässt. Man geht durch Straßen, betrachtet Fassaden, Menschen, Straßen, und alles erscheint bedeutsam, aber auch schmerzhaft vergänglich. Ist es gerade darin, dass wir uns näher kommen?– in der Unfähigkeit, zu fliehen vor dem, was uns überfordert, sondern es leise zu betrachten.
Ich hätte gern mit dir über Kunst gesprochen, über das technische, die Farben, die Kompositionen oder deine kreativen Prozesse. Aber auch über das, was zwischen den Farben liegt, über das, was ein Bild kaum trägt und doch spürbar macht. Über Moral, über das fragile Gleichgewicht zwischen Wahrhaftigkeit und Zumutbarkeit. Über Glauben – nicht als Dogma, sondern die vielen Fragen. Über das entblößen der Seele in der eigenen Kunst und den Mut verletzlich zu sein.
In meinem Alltag suche ich oft nach Orten, die etwas in mir zur Ruhe bringen. Fenster licht auf warmem Holz. Ein stiller Wald. Ein altes Bücherregal. Ich sehne mich nach solchen ästhetischen Orten, als könnten sie etwas ordnen, das in mir unruhig ist. Ich frage mich, ob dein Atelier ein solcher Ort war. Oder ob selbst dort die Welt zu nah war.
Ich glaube schreibe ich dir, weil ich denke, dass du weniger allein warst, als du es selbst vermuten konntest. Und weil ich dir sagen wollte, dass viele dich verstehen – ohne dich erklären zu wollen.
Danke für deine Kunst
—Antonia