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Sind Klassiker heute noch lesenswert? Von Vorurteilen und der ihrer Überwindung

KLASSIKER

Warum wir heute noch Klassiker lesen sollten

Kennst du die Szene in Der Teufel trägt Prada, in der Meryl Streep Anne Hathaway erklärt, dass die Farbe ihres scheinbar zufällig ausgewählten blauen Pullovers ursprünglich auf einer Designer-Kollektion basiert? Dass Mode nicht einfach „aus dem Nichts“ entsteht, sondern immer aus einem Netz von Bezügen, Zitaten und Wiederentdeckungen heraus?
Mit Literatur ist es genau so.

Klassische Werke sind die unsichtbaren Architekten unserer heutigen Geschichten. Kein moderner Roman, kein Film, keine Netflix-Serie existiert im luftleeren Raum. Selbst die scheinbar neuen Ideen tragen das Echo derer, die vor ihnen kamen. Nehmen wir zum Beispiel Harry Potter – eine Geschichte über das Erwachsenwerden, Freundschaft und Moral – sie steht in einer langen Tradition englischer Internatsgeschichten, von Tom Brown’s School Days bis hin zu Dickens’ Nicholas Nickleby. Die Struktur, die Archetypen, ja sogar die moralische Spannung zwischen Macht und Verantwortung – all das wurzelt in einer literarischen Geschichte, die weit über Hogwarts hinausgeht.

Ähnlich verhält es sich mit der romantischen Literatur: Ohne etwa Jane Austen oder die Brontë-Schwestern wäre das Genre moderner Liebesromane kaum denkbar. Sie haben Figuren geschaffen, die bis heute in neuen Formen wiederkehren – die scharfsinnige, aber verletzliche Heldin, der moralisch zwiespältige, geheimnisvolle Mann, die Gesellschaft als Bühne für emotionale Erkenntnis. Dass wir in einer heutigen Netflix-Serie oder einem Roman über „emotional unavailable men“ dieselben Themen wiederfinden, ist kein Zufall, sondern ein Zeichen dafür, dass diese Fragen – Liebe, Stolz, Verletzlichkeit, gesellschaftliche Zwänge – nie an Relevanz verlieren.

Und dann ist da Shakespeare – der Dramatiker, der die englische Sprache selbst formte. Seine Worte, seine Rhythmen, seine Figuren prägen nicht nur das Theater, sondern unsere gesamte Kultur. Fast jede menschliche Emotion, jede moralische Frage scheint in seinen Werken bereits vorformuliert: Macht und Wahnsinn in Macbeth, die Illusion der Liebe in A Midsummer Night’s Dream, der Kampf zwischen Wahrheit und Schein in Hamlet. Nicht nur, dass er durch Hamlet auch noch moderne Kino Klassiker wie König der Löwen inspirierte, durch sein gesamtes Schaffen, brachte er das Theater zum Volk – und machte dadurch Kultur und Literatur zu etwas bei dem jeder mitreden kann.

Klassiker sind keine staubigen Artefakte, sondern Zeitkapseln: Sie bewahren, wie Menschen einer bestimmten Epoche die Welt verstanden haben – und, dass wir ihnen gar nicht so unähnlich sind wie wir oft denken. Wenn wir sie lesen, sehen wir unsere Gegenwart in einem neuen Licht. Themen wie Entfremdung, Sehnsucht, Ungerechtigkeit, Liebe und Verlust sind keine Erfindungen der Moderne. „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, heißt es im Buch Kohelet, und vielleicht liegt genau darin der Trost: dass unsere Kämpfe, unsere Fragen, unsere Widersprüche uralt und zutiefst menschlich sind.

Das vielleicht größte Missverständnis über klassische Literatur ist, dass sie elitär oder unzugänglich sei. Doch viele Klassiker sind überraschend lebendig, witzig und manchmal sogar wild. Sie sind keine unnahbaren Monumente – sie sprechen zu uns, wenn wir uns die Zeit für sie nehmen.

Klassiker zu lesen heißt nicht, in der Vergangenheit zu leben. Es heißt, die Gegenwart zu verstehen, weil man erkennt, wie viel von dem, was uns umgibt, in ihr verwurzelt ist. Wer Klassiker liest, sieht tiefer. Er erkennt, dass jede Mode, jede Idee, jedes Gefühl eine Geschichte hat – und dass wir selbst Teil davon sind.

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